Von einer Gast-Autorin, die anonym bleiben möchte
Meine Mutter war 90 Jahre alt. Sie lebte allein in ihrem Haus mit Garten. Selbständigkeit war ihr immer wichtig, sie legte Wert darauf sich selbst zu versorgen. Obwohl ihr Körper in den letzten Jahren schon etwas klapprig geworden war, erfreute sie sich noch einer durchaus akzeptablen Gesundheit. Die Notwendigkeit einen Rollator als Gehhilfe zu benutzen, war ihr zwar ein Dorn im Auge, aber sie kam gut damit zurecht.
Eines Tages rief sie mich an und bat mich sie zu besuchen. Sie hätte mir etwas Wichtiges mitzuteilen. Ihr Tonfall war ruhig und unaufgeregt, aber ich fühlte mich alarmiert. Als ich kam, eröffnete sie mir ganz unumwunden, dass sie an jenem Morgen die letzte Mahlzeit ihres Lebens eingenommen hatte. Ab nun wolle sie keine Nahrung und Flüssigkeit mehr zu sich nehmen, bis der Tod eintrete.
Sie war im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und sprach völlig klar, gefasst und bestimmt. An ihrer Entschlossenheit ließ sie nicht den geringsten Zweifel aufkommen. Offenbar hatte sie ihr Ende seit längerem geplant. Sie war bestens informiert und vorbereitet. Sie erklärte mir, sie habe immer schon gewusst, dass sie eines Tages den Indianerweg gehen würde. Sie behauptete die Indianer machen das so. Wenn die Kräfte nachlassen, ziehen sie sich zurück und essen und trinken nichts mehr.
Meine Mutter wollte nicht immer schwächer werden und dann dahinvegetieren. Sie meinte, vor vielen Jahren sei ihr dieses Ende prophezeit worden. Ich war erschüttert festzustellen, wie detailliert Sie auf diesen Moment vorbereitet war. Sämtliche offenen Angelegenheiten waren erledigt, der Nachlass geregelt.
Gleichzeitig bewunderte ich ihr unerschütterliches Vertrauen, ihren Mut! Sie erklärte mir das alles mit einer großen Zärtlichkeit und voller Freude! Da war ein liebevoller Glanz in ihren Augen, den ich nie vergessen werde. Spontan entschied ich, von nun an bei ihr zu bleiben. Ich wollte die letzte Etappe ihres Lebens mit ihr verbringen. Offensichtlich erfüllte sie das mit Stolz. Sie wusste sie konnte mir das zumuten!
Ihr Leben sollte noch 10 Tage dauern, ich war Tag und Nacht bei ihr. Zuerst besuchte ich Mutters Hausärztin um ihr alles zu erzählen. Das erschien mir wichtig, damit man mir nicht hinterher Vorwürfe machen könnte. Die ersten fünf Tage war sie unverändert fröhlich, wach und aktiv. Wir unterhielten uns den ganzen Tag und konnten alles in Ruhe besprechen. Wenn ich niedergeschlagen war, hat sie mich aufgeheitert. Sie war die ganze Zeit guter Dinge. Ich nahm meine Mahlzeiten neben ihr ein, was sie nicht störte. Im Gegenteil, sie war froh, dass ich einen gesunden Appetit hatte.
Wenn jemand aus ihrem riesigen Freundeskreis anrief und einen Besuch in nächster Zeit ankündigte, erklärte sie, dass sie dann nicht mehr da sein werde. Ohne Umschweife brachte sie die Sache auf den Punkt! Das war nicht leicht zu verkraften für die Freunde und Bekannten.
Ein schwieriger Moment war auch, als ich meinen Bruder informierte. Ich sagte meiner Schwägerin nur, sie beide sollen so bald wie möglich zu Mutter kommen. Sie kamen unverzüglich. Doch als sie Mama gesund und munter antrafen, meinten sie vorwurfsvoll sie verstünden nicht, warum der Besuch so eilig war. Da erklärte ich ihnen, was in den nächsten Tagen passieren würde.
Manche Besucher attackierten mich und meinten ich muss sie zum Essen zwingen. Die haben nicht verstanden! Für meine Mutter war die Würde des Menschen das höchste Gut. Sie nutzte diese Zeit zum Aufräumen. Wenn Sie meinte mit einem Menschen ein wichtiges Thema offen zu haben, suchte sie ein klärendes Gespräch. Und für uns beide war es wohl die wertvollste gemeinsame Zeit unseres Lebens. Wir führten unzählige gute, klärende und nährende Gespräche.
Am sechsten Tag versagte Mutters Stimme. Plötzlich bemerkte ich, wie furchtbar dünn sie geworden war. Dabei war sie auch vorher sehr schlank gewesen, aber nun bestand ihr Körper nur noch aus Haut und Knochen. Ab dann war sie ständig müde und schlief den Großteil des Tages. Aber wenn sie wach war und mich sah, lächelte sie. Sie wirkte immer schwächer, aber nicht leidend.
Dann am 9. Tag bekam sie Schmerzen. Da die Hausärztin auf Urlaub war, rief ich einen anderen Arzt an, den ich persönlich kenne. Er kam, sah sie und wusste sofort bescheid. Er verabreichte ihr eine Morphium-Spritze, welche die Schmerzen augenblicklich linderte. Am 10. Tag musste ich kurz eine Besorgung außer Haus machen. Als ich wieder bei ihr am Bett saß, griff sie plötzlich nach meinem Arm und ich wusste, es ist soweit. Ich sagte zu ihr: „Es ist alles gut“. Da schloss sie die Augen und es war vorbei.
So erfüllte sich meine Mutter den Wunsch nach Sterben in Würde. Ich bin froh, dass ich sie bis zuletzt unterstützen konnte.
Buchtipps:
„Sterbefasten“ von Christiane zur Nieden
„Umgang mit Sterbefasten“ von Christiane und Hans-Christoph zur Nieden
Danke an die anonyme Autorin! Das ist eine wunderschöne Geschichte voller Würde, Selbstverantwortung und Liebe! Nur wenn wir das Leben lieben, ist der Indianerweg möglich…